Judith Hermann zu Gast am WRG
Der größte Fehler beim Schreiben ist, sich zu sicher zu sein, dass das, was man schreibt, wirklich gut ist." - Judith Hermann
Mit den Fingern fährt sie langsam über die Seiten, blickt vertieft in das Buch, richtet dann ein wenig die Leselampe und sieht schließlich auf.
Ihr Blick ist klar und entschlossen. Dann wandert er wieder hinein in
die Seiten und sie fängt an, zu lesen: "Ende von Etwas". Sie liest von
Sophie, die zu irgend jemandem von ihrer Mutter spricht und ihrer
Großmutter und all den Erinnerungen, an die sie immer denken muss.

Hermann legt nicht fest, wer der Adressat (die Adressatin?) und zugleich Ich-Erzähler*in ist, wodurch ich mich in die Geschichte hinein bewege. So ist es fast, als würde ich selbst Sophie in dem Café gegenübersitzen und ihr zuhören, während sie von alten Zeiten spricht. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie ein Glas Wein bestellt und dabei von ihrer Großmutter erzählt, die früher immer und überall den Schnaps gefunden hat.
Dann ist Hermann fertig, schließt das Buch und sieht in zahlreiche Gesichter, viele gespannt darauf, wie sie unsere Fragen beantworten wird. "Oft entstehen meine Geschichten aus einfachen, einzelnen Sätzen, die ich irgendwo gehört habe." So fange das Schreiben ihrer Geschichten mit einer Idee an, einer kleinen Inspiration, mit etwas aus ihrem Umfeld oder Alltag. Aus diesen ersten Sätzen entwickelt sich dann eine Situation, ein Raum, eine Person, ein Name. Und schließlich entstehen ihre Geschichten, die Hermann somit von innen nach außen erzählt. Sie beginnen irgendwo und enden ebenso unbestimmt, bleiben oft kleine Rätsel – vermittelt von (Ich-)Erzähler*innen, die ebenso wenig klare Konturen haben.
Hermanns Geschichten prägt ein spannendes Wechselspiel von Zeigen und Verbergen. Dem Leser wird gerade so viel gezeigt, dass er sich die Situation vorstellen kann, jedoch immer noch vieles, viele Leerstellen, selbst füllen muss. Ihm ist es demnach selbst überlassen, was mit Hermanns Texten geschieht. Er kann sich hineinschmiegen oder sie dehnen sich in ihm aus oder er bleibt (etwas ratlos?) davor. Und egal, was jeder Leser mit Hermann Texten tut und wie er sie versteht, es sei richtig. Wobei "richtig" und "falsch" hier eigentlich unangemessene Zuschreibungen sind, denn Hermanns Meinung nach kann es beim Lesen eigentlich keine falschen Interpretationen geben – nur sehr persönliche Leseerlebnisse. Durch dieses Wechselspiel von Zeigen und Verbergen entsteht eine sehr intensive Lektüre der Erzählungen und fast eine intime Beziehung zwischen dem Leser und Hermanns Figuren.
Hermann erzählt, dass sie zwar am Anfang einer neuen Geschichte immer eine Idee hat, wie sie werden könnte, diese sich jedoch verselbständigt und sich erst beim Schreiben entwickelt. Ihr erstes Buch sei ihr beim Schreiben deutlich leichter gefallen, erfahren wir, da sie sich bei den nächsten Büchern mehr beobachtet habe und das Gefühl hatte, Erwartungen erfüllen zu müssen, was das Schreiben erschwert hat. Und wie sie auf neue Ideen für ihre Bücher kommt, erzählt sie auch. Oft schreibt sie die Dinge, die sie beschäftigen, einfach auf, um sie festzuhalten und zu verstehen. Vielleicht aber auch, um sich ein bisschen frei von diesen Dingen zu machen. Indem sie dann diese Kurzgeschichten schreibt, gibt sie diese Dinge, die sie beschäftigen, weg.
Obwohl die Autorin zugibt, dass sie oft eine Vermutung hat, wie es nach dem Ende einer Geschichte weitergeht, bleibt dem Leser überlassen, was mit den Dingen und den Leben ihrer Figuren passiert. Das ist ein großer Reiz kurzer Texte: Situationen einfach so stehen lassen. Vielleicht sogar als Frage, als Ausdruck einer Suche. Der größte Fehler beim Schreiben ist, sich zu sicher zu sein, dass es wirklich gut ist, was man da schreibt, sagt Hermann.
Eliana von Amsberg