Sonne, Strand und Politik - eine Woche mit dem Seminarkurs in der Türkei
Sonnenschein empfängt uns, als wir aus dem Flughafen auf den Parkplatz treten. Dösig blinzeln wir gegen die Helligkeit an, schieben die Ärmel hoch und flüchten uns dann rasch zurück ins Klimatisierte; in die Busse, die uns zu unserem Hotel in Izmir bringen sollen. Drei Tage werden wir, der Seminarkurs Integration und Austausch, in der türkischen Großstadt verbringen, bevor wir weiterziehen, zu unseren Gastfamilien nach Balikesir.

Die Häuser der Innenstadt ragen hoch um uns auf, die Ventilatorkästen der Klimaanlagen an den Hauswänden. Zwischen den Hausdächern ein breiter, weißer Streifen Himmel, unterbrochen nur durch die Leinen, von denen Türkische Flaggen baumeln – ihre großen Geschwister wehen von jedem zweiten oder dritten Hausdach – manchmal auch Transparente, die das stilisierte Portrait eines Mannes mit scharfen und doch gutmütigen Gesichtszügen zeigen. "Wer ist das?", fragt jemand: "Erdogan?" - "Das ist Atatürk!", kommt es von links. Seine Augen folgen uns die Straße hinunter, bis hin zu unserer Unterkunft, in deren Glasfassade sich der Hotelketten eigene internationalisierte Anonymität spiegelt und die sich erschreckend gut in das sie umgebende beflaggte Häuserschachbrett einfügt.
Drinnen: Runtergekühlt auf 21 Grad Raumtemperatur, Schlüsselkarten, Topfpflanzen, eingeschweißte Zahnbecher – wie in Stockholm, wie in Berlin, wie überall auf der Welt. Es riecht nach mit Chlor versetztem Leitungswasser. Aus den Glastüren hinaus auf die Straße zu treten, fühlt sich jedesmal wieder an, als würde man in eine andere Welt fallen: Nicht nur die plötzliche Wärme, auch die Farbtöne sind ganz andere – sandiges Ocker und Orange, die mich vage an Rom erinnern, dazu der von den Fassaden blätternde Putz, das goldene Licht. Wie der kosmische Gegenentwurf zu den geometrisch gefügten Gehwegplatten am Bahnhof Zoo und dem Lindenblütengeruch in meiner Straße – wahrscheinlich ist es einfach das, was man "Süden" nennt.

Am Abend versinkt die Sonne im Meer und wir sitzen beinebaumelnd auf der Kaimauer an der Strandpromenade, beobachten die Lichter, die im tiefer werdenden Dunkel den Verlauf von Inseln und Buchten nachzeichnen. Wir sind eine relativ kleine Truppe, die hier im Mondschein sitzt und dem schmatzenden Schlagen der Wellen lauscht – achtzehn Leute – und unsere in Berlin am Flughafen noch scherzhaft als solche betitelte "Familienreise" fühlt sich in diesen kleinen Augenblicken der Stille tatsächlich ein wenig so an.
Die gewundenen Straßen von Izmir verschwimmen rückblickend mit dem Strandbesuch in Cesme, dem EM-Gucken am Abend – die Sonne am blauen Himmel, der Geschmack von bitterem Wasser aus Plastikflaschen, (die mit ihrem aufgedruckten Bergpanorama ein bisschen wie Wodkaflaschen aussehen), den zahlreichen Happy Birthday's und Viel Glück und viel Segen's, die wir beinahe stündlich für unsere beiden Geburtstagskinder (Immo und Frau Poche) singen und die ersten schiefen Klänge von Dona Nobis Pacem, der Hymne unserer Reise, die wir auf der endlosen Busfahrt nach Balikesir für die Abschiedsfeier am letzten Reisetag einzuüben beginnen.
In Balikesir ist die Luft trocken; dick und fast schon staubig steht sie zwischen den Hügeln und Häusern. Die Wohnung meiner Gastschülerin Irem liegt auf einem Hügel, wie eigentlich alles in Balikesir. Sie liegt in einem Soldatenwohnviertel mit handgemalten Straßenschildern. Die Stufen im Treppenhaus sind aus unebenem Beton, in den Mulden steht das schaumige Wasser vom Putzen. Die Räume sind hoch und rechteckig-schlicht, genau wie die Türen; aneinandergefügt wie Bauklötze, die Böden gefliest, alles weiß lackiert. Gegenläufig dazu die verspielten Möbel: Blümchenverziertes Geschirr, cremefarbenes Sofa, dicke Engel aus Gold an der Wohnzimmerwand. Eine bemüht heimelige Einrichtung, ein aufgeschlagenes Lager der Gemütlichkeit gegen die kahlen, hohen Wände. Die Yamans leben noch nicht lange hier, vorher wohnten sie in Songuldak, auch mal in Ankara, ein Jahr sogar auf Zypern – sie reisen viel herum, des Vaters wegen. "Your flat looks like a Kreuzberger-WG-Wohnung!", rufe ich begeistert und Irem grinst verständnislos über mein Lachen.
Abends, nach dem gemeinsamen Essen mit der Gruppe, stehen wir im Dunkeln auf dem Bürgersteig, um uns brausen die Autos. "Ich ruf meinen Vater an", sagt Irem. Ich schüttle meine eingeschlafenen Füße und strecke mich. "Können wir nicht lieber laufen?" - "Nein, das ist zu gefährlich", sagt Irem: "Man sollte hier nachts nicht alleine rumlaufen." Um uns ist alles friedlich, eine junge Katze liegt auf den Stufen eines geschlossenen Geschäfts gegenüber und miaut kläglich.
Wer in Balikesir nicht auf den Bus warten will, der nimmt ein Lienentaxi. "Kostet genausoviel Geld wie Busfahren, geht aber schneller", informiert mich Irem und hält souverän einen vorbeifahrenden Kleinwagen an. Auf dem Dach ist ein Schild mit der dazugehörigen Buslinie befestigt. Wir quetschen uns auf die Rückbank, Irem reicht einige Münzen nach vorne, dann geht es los durch die hügeligen Straßen. Neubausiedlungen sind am Stadtrand ins Grün gebaut, kopftuchtragende Omis steigen zu und wieder aus und schließlich erreichen wir die Schule, ein langgestrecktes, klobiges Gebäude mit Sicherheitsschranken davor (die allerdings erst nächstes Jahr in Betrieb genommen werden), mit Rosenbüschen auf dem Hof und bunten Malereien an den Cafeteriawänden.
Und dort, direkt neben dem Schultor, steht er wieder: Atatürk. Den starren Blick kenne ich inzwischen gut von der kleinen Gipsbüste auf Irems Nachttisch. "1881 - ∞" prangt in eisernen Lettern darunter. "Bis unendlich?", frage ich skeptisch. "Ja. Er lebt in unseren Herzen weiter." entgegnet Irem abrupt und irgendwie klingt es ein kleinwenig auswendiggelernt.

In der Cafeteria widmen wir uns unserer Projektarbeit und erstellen Plakate zum Thema Vorurteile und Charakterisitka von Deutschen und Türken. Und ehe die türkischen Mitglieder unserer Gruppe sich's versehen, prangen auf unserem Plakat neben ausgeschnittenen Sonnenuntergängen und Nüssen mit schwarzem Edding zensierte Modelfotografien, ausgestrichene Crossdresser und das Bild einer Mathematiklehrerin, das wir mit zahlreichen Putzmittelflaschen dekoriert haben. Etwas furchtsam schielen wir schließlich zu unseren Austauschpartnern herüber. Die werfen einen raschen Blick auf unser Werk und brechen dann in Gekicher aus, besonders böse scheinen sie uns also nicht zu sein. Fragen stellen sie allerdings auch keine und auf unser "Isn't it like that?", folgt nur erneutes Kichern.
Nachdem das erste politische Eis gebrochen ist, dringen unsere Gespräche allmählich immer weiter in die heiklen Bereiche der jeweiligen Landespolitik vor. Morgens beim Frühstück, die Sonne scheint durch die mit Kirschmuster bestickten Vorhänge, fragt Irem plötzlich: "Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber sprecht ihr in der Schule eigentlich über Hitler?" Ich erzähle ihr vom Holocaustdenkmal in Berlin, von den verschiedenen Herangehensweisen an das Thema im Geschichtsunterricht, von Lichtermärschen, Stolpersteinen und von Björn Höcke, dem AfD-Mann, der Geschichtslerher ist. Unser Gespräch spinnt sich weiter über den Wahnsinn, die politischen Diskussionen auf dem Rücken von Flüchtenden auszutragen bis hin zu türkischen Politikern, die im Wahlkampf Lebensmmittel in arme Regionen verschicken: "Ich habe ja auch keine Ahnung von Politik", sagt Irem: "Aber was die verschiedenen Parteien wollen, dass sollten man schon wissen, finde ich." - "Ich habe ja keine Ahnung von Politik" - das schiebt sie wie ein Schutzschild vor jede ihrer Äußerungen; eigentlich unbegründet. Später gesteht sie: "Ich will mich ja eigentlich gar nicht für Politik interessieren, aber ich habe solche Angst vor dem, was unsere Regierung als nächstes tun wird." Dabei hat sie Tränen in den Augen.

Doch für all den politischen Gesprächsstoff bleibt im Rausch der Tage nur wenig Zeit, er schlägt sich vor allem in Randbemerkungen nieder. Unser Bus trägt uns durch die schmerzhaft schönen Hügellandschaften des Umlands zur historischen Stätte Pergamon. Es ist doch eigentlich recht wenig, was dort noch von der antiken Pracht des (zugegebenermaßen beeindruckend schönen) Ortes zeugt: Die bröselnden Stufen des Amphitheaters, Steinbrocken, die mühevoll in Form der Tempelgrundrisse aufgeschichtet wurden, ein Kasten mit einer Modellnachbildungen vom berühmten Pergamonaltar vor dem atemberaubenden Ausblick über die Hügel. Der Altar sei im Zuge der Ausgrabungen "nach Deutschland gebracht worden", sagt ein Seminarkursschüler, als wir gemeinsam im Schatten der Bäume auf einigen antiken Steinbrocken sitzend seinem Referat lauschen. Der türkische Lehrer zuckt beim Übersetzen sichtlich zusammen, Getuschel breitet sich unter den türkischen Schülern aus. "Gestohlen...", raunt Irem mir später zu: "..gestohlen muss es doch eigentlich heißen, ich mein's nicht böse..."
Einen anderen Tag verbringen wir, beschallt von geremixter Partymusik, auf einem Ausflugsschiff. Unter Deck gibt es Fisch und Salat; irgendwie entbrennt eine Diskussion über Vegetarier und Veganer (davon gibt es in der deutschen Gruppe – oh Wunder! - eine ganze Menge) und über Tierhaltung und Ausbeutungswahnsinn im Allgemeinen. Bei den türkischen Schülern trifft das eher auf Unverständnis – hier kommen Milch, Käse und Gemüse häufig von der auf dem Land lebenden Großmutter und nicht aus den sterilen Gängen eines Aldi oder Lidl.
In dem Thermalbad, dass wir mit unseren Austauschschülern besuchen, dröhnen ebenfalls überdrehte Bässe und elektronisch modifizierte Frauenstimmen über das Außengelände. Auch zu den Bänken weiter hinten im Grünen dringt noch ein gemäßigtes "This ist not how I woke up/But it's how I look now" und gibt dem sonnengetränkten Ausblick über Froschteich, Felder und die abblätternde Fassade des Thermalhotels einen Soundtrack, den man schwer wieder aus dem Kopf bekommt. In der Dämmerung sitzen wir gemeinsam im Rasen, später in der Hotellobby. Aufgekratzte Diskussionen klingen die fünf Stockwerke bis zum Glasdach hinauf und wieder hinunter. Gegenstand ist der eben gehörte Schülervortrag zum Thema Frauenrechte und die Behauptung, jede dritte Frau in der Türkei litte unter Gewalt und Unterdrückung. Zweifel kommen von deutscher und deutsch-türkischer Seite auf, begleitet von der Angst, ungewollt europäische Arroganz zum Ausdruck zu bringen. Befragte türkische Schülerinnen stimmen der These allerdings zu: "Vieles ist schlimm, was den Frauen hier passiert." Unseren Austauschschülern scheint der kritische Umgang mit dem Heimatland deutlich leichter zu fallen als manchem Deutschtürken.
Meine Gastmutter, blond und kurzhaarig, schiebt als Krankenschwester im Dreitagesrhythmus 24-Stunden-Schichten im benachbarten Krankenhaus und schmeißt nebenbei den Haushalt. Sie ist jung und hübsch, über den Esstisch hinweg tauscht sie mit ihrem Mann verliebte Blicke aus. Das W-Lan Netzwerk ist nach ihr benannt. Einmal zeigt sie uns, wie man den köstlichen türkischen Kaffee kocht. In der Küche drängen wir uns um den brodelnden Topf zusammen, nur Irems Vater bleibt im Wohnzimmer sitzen. Ob ihr Mann eigentlich wisse, wie man Kaffee kocht, fragt Philip neugierig. "Ich weiß nicht genau", entgegnet Irems Mutter und fügt augenzwinkernd hinzu, "aber selbst wenn er es wüsste, er würde ihn ja doch nicht machen." "Ich glaube nicht, dass Papa Kaffee kochen kann", grinst Irem darauf, "er kann ja nicht mal Essen kochen – wenn du arbeiten bist, bestellen wir uns immer was."
Am letzten Tag fahren wir alle gemeinsam in das Einkaufszentrum am Stadtrand. Im Auto hören wir Musik von einer Best Of Turkish Pop Music CD und Irem und ihre Eltern singen lautstark mit. "Die CD lag hier schon im Handschuhfach, als wir das Auto kauften", erzählt mir Irem und zu den türkischen Gesängen über Liebe und Herzschmerz ziehen ein letztes Mal die felsigen, mit störrischem Grün bewachsenen Hügel an mir vorüber. Ein letztes Mal brennt die türkische Sonne auf unseren Schultern, ein letztes Mal lauschen wir dem elektronisch verstärkten Moscheeruf; ein fremdartiges Lied, das uns für einen Augenblick zum Schweigen bringt, eine Kostprobe aus einer fernen, märchenhaften Welt.
Der Morgen unserer Abreise ist früh und verschlafen, die Luft schon warm. Eigentlich können wir nicht gehen, die Vorstellung hat etwas Unwirkliches. Irem und ich liegen einander in den Armen, ich verspreche wiederzukommen. "Dann zeigen wir dir Ankara und Songuldak", sagen ihre Eltern. Schließlich umfängt uns wieder das klimatisierte Innere des Busses. Draußen liegen die Hügel und Sträucher unter dem blauen Himmel schon etwas fremd und irreal da, als wir uns auf den Weg zum Flughafen machen.
Zuhause heißen mich die grauen Steinbauten am Zoo und die Linden vor dem Fenster willkommen, die erdigen Töne und die goldene Hitze der Türkei wirken plötzlich wie ein ferner Traum. Die Reste davon hängen in meinen Kleidern und haften an meiner Haut; ich habe das Gefühl zu glühen, ein sonniger, aufgeheizter Fremdkörper in meinem geliebten Berlin zu sein. Das wird wohl der Zauber des Südens sein, denke ich, als ich später am Fenster sitze und den Nachklängen dieser Fahrt lausche, die Frau Poche zu Recht als "herrlich" bezeichnen würde (und es genau genommen auch deutlich mehr als einmal getan hat). Seltsam, denke ich, wie groß die Welt doch ist und wie wenig wir eigentlich davon zu sehen bekommen.
Ein riesengroßes Dankeschön an Frau Poche und Frau Körting-Dornieden, die uns Schülern jedes Jahr wieder das Tor zu einem neuen Stückchen Welt aufstoßen und natürlich auch an Herrn Ünal und die Schüler unser Partnerschule RKAL, die uns diese wunderbare Erfahrung erst möglich gemacht haben! Auf dass dieser Seminarkurs mit seinem Austauschprogramm noch viele weitere Jahre fortbestehen möge!
Lisa Starogardzki, 4. Semester, Juni 2016