Unwort des Jahres
"Gutmensch" ist das Unwort des Jahres 2015. Das hat die Jury der sogenannten Sprachkritischen Aktion entschieden.
Die Begründung ist einleuchtend; im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation wird das Wort Gutmensch oft tendenziös benutzt, um diejenigen zu diffamieren, die ehrenamtlich Flüchtlingshilfe leisten oder gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime protestieren. Toleranz und Hilfsbereitschaft werden also als "Gutmenschentum" verhöhnt.
Beim Lesen der Entscheidung der Sprachwissenschaftler aus Darmstadt, fühle ich mich nicht angesprochen. Ich bin für Flüchtlingshilfe, bewundere Leute, die sich hierfür einsetzen und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich selbst nicht zu diesen Leuten zählen kann.
Allerdings erinnere ich mich auch daran, dass es Situationen gab, in
denen ich selbst das Wort Gutmensch benutzt habe. Eine begab sich vor
ungefähr einer Woche, als mir ein Freund erzählte, er werde seine
Festivalkarte spenden, die andernfalls verfalle. Er sei gegen die
Kapitalisierung von Festivals und wolle sie deswegen auf keinen Fall
teuer verkaufen. "Du Gutmensch", habe ich zu ihm gesagt, "über hundert
Euro Verlust, weil du nicht willst, dass die Festivalerfahrung monetär
beschmutzt wird." Und noch eine Situation fällt mir ein, in der ich
jemanden als Gutmenschen betitelt habe: Eine Freundin, die sich
aufregte, dass Suppenküchen für Obdachlose an den drei Weihnachtstagen
geschlossen haben, da sie dort gerne über die Feiertage ausgeholfen
hätte.
Wenn ich jetzt daran denke, hören sich meine Worte nicht nur etwas
sarkastisch an, sondern richtig zynisch. Warum muss ich mich darüber
lustig machen, dass jemandem Geld anscheinend weniger wichtig ist als
mir, anstatt ihn für seine Großzügigkeit zu bewundern?
Und wieso werte ich die guten Absichten von jemandem ab, der an Weihnachten nicht nur an die Geschenke und die Gans denkt, sondern ganz im Sinne der Nächstenliebe auch an das Wohl anderer Menschen?
Aber vielleicht ist es vertrackter, als es auf den ersten Blick erscheint und wir antworten mit dieser abfälligen Bezeichnung auf einen stummen Vorwurf: Jemand handelt hilfsbereit und großzügig (kurz: gut) und wir fühlen uns, als suggerierte er uns, er sei ein besserer Mensch.
Angegriffen in unserem moralischen Selbstbild, werfen wir dem anderen sodann vor, er wollte sich über seine Handlungen profilieren und seinen Bestrebungen läge ein weltfremdes Helfersyndrom zugrunde. Ich selbst verkaufe Dinge, anstatt sie zu verschenken und ich spende mein Weihnachtsgeld nicht, weil ich es selbst behalten möchte. Das ist nicht nobel, das ist nicht das, was einen guten Menschen ausmacht, also verhöhne ich diejenigen, die es anders machen, indem ich ihre Absichten ins Lächerliche ziehe.
Gut, bei mir hat das immerhin keinen rechtspopulistischen Hintergrund, also kann ich mir einreden, dass ich nicht zu den Menschen zähle, die am Ende eines Jahres feststellen, dass sich grundsätzlich geirrt haben, da das Wort, welches sie so gern und so selbstgewiss benutzt haben, zum Unwort des Jahres gewählt wurde.
Trotzdem will ich für mich als nachträglichen Neujahrsvorsatz
festhalten, jemanden lieber einen guten Menschen zu nennen und das ganz
aufrichtig, anstatt vorschnell Gutmensch zu sagen, um mich nicht damit
auseinander zu setzen, wieso ich selbst nicht ähnlich handle.
Übrigens, das Unwort des Jahres 2014 war Lügenpresse. Wenigstens in diesem kann ich ein reines Gewissen haben.
Charlotte Westendorf (ehemalige Schülerin des WRG)